Seume und Emden
Eine Wohn- und Einbahnstraße erinnert in Emden an Johann Gottfried Seume (Foto Biehusen)
von Karl Wolfgang Biehusen (06.02.2016)
Etwa vier Jahre lang hat der Autor, Aufklärer und "Spaziergänger" Johann Gottfried Seume (1763 - 1810) in der ostfriesischen Hafen- und Festungs-Stadt Emden verlebt, an der Grenze zu den Niederlanden. Von 1783 bis 1787, als einfacher und unwilliger Soldat im preußischen Garnisonsregiment 12. Er fiel dort Bürgern der Stadt auf: als belesener Intellektueller und Kenner der englischen Sprache. Sie engagierten ihn als Englisch-Lehrer ihrer Kinder. Er kam bei ihnen und ihren Eltern offenbar gut an.
Einer Schülerin, Charlotte de l’Homme de Courbière (1767 - 1813) verdankte er sogar seine Freiheit, nach einer missglückter Desertation. Womöglich sein Leben. Bis zu seinem Tod ist er mit ihr in Kontakt geblieben. In Emden scheinen sich die beamteten Nachfolger ähnlich nachhaltig beliebt zu machen. Der Autor Falko Weerts erzählt von zwei „seumigen“ Erinnerungen aus seiner Schulzeit in Emden: an die Lektüre von Seumes „Spaziergang nach Syrakus“ im Unterricht – und an die „Seumestraße“ auf dem Schulweg. In einer „kurze(n) Geschichte über den Spaziergang“ hat er sie verarbeitet. Ältere Hörer des Norddeutschen Rundfunks erinnern sich an Falko Weertss als Moderatoren der Sendung „Talk op Platt“.
Tatsächlich wird man in Emden sogar mit zwei Straßennamen auf die Geschichte vom Bauernsohn Seume aus Poserna gestoßen. Die Journalistin und Autorin Silke Arends stellt fest: „Ein Fußweg von vielleicht 15 Minuten liegt (in Emden) zwischen der ‚Seumestraße‘ und der ‚Courbieèrestraße‘ …“. So beginnt ihr Aufsatz, den man im „Ostfreesland Kalender 2016“ lesen kann. Sein Titel: „Der Poet und der General“. Mit dem General ist Charlottes Vater gemeint : Generalmajor Wilhelm René de l’Homme de Courbière (1733- 1811) Stadtkommandant von Emden Kommandant der preußischen Festung.
In der Seume-Literatur hat dieser Mann bislang kaum Spuren hinterlassen. Silke Arends füllt die Lücke mit interessanten Details aus dem Leben des höchsten Vorgesetzen Seumes in Emden. Er entstammte einer französischen, calvinistischen Adelsfamilie, die nach der 1685 erfolgten Aufhebung des Toleranzediktes von Nantes ins liberale Preußen emigrierte - wie so viele „Hugenotten“. Streitbaren Chrakters soll er gewesen sein. Trotzdem (oder deshalb) machte er Karriere unter dem „großen“ Preußenkönig König Friedrich II. So erhielt er 1763 das Kommando in Emden (Ostfriesland gehörte seit 1744 zu Preußen) und heiratete die Emderin Sophie von Weiß.
Noch ausführlicher fällt Silke Areds' Schilderung des Lebens von Johann Gottfried Seume aus. Leser des Kalenders interessiert vermutlich besonders der Abschnitt, der von Emden handelt. Seumes Flucht im Januar 1787 steht dabei im Zentrum. Er habe sich als Zivilist getarnt, sei heimlich getürmt, man habe ihn wieder eingefangen und zu mehrmaligem Spießrutenlaufen verurteilt. Faktisch ein Todesurteil, denn kaum ein Deserteur überlebte die Stockschläge der Kameraden, durch deren Reihe er schreiten musste. Das Flehen seiner Freundinnen und Freunde habe den General verlasst, die Todes- zur Haftstraße zu mildern. Mehr noch: er habe ihm gegen Kaution (80 Thaler) einen Urlaub gewährt, wohl wissend dass Seume die Chance zur endgültigen Flucht nutzen würde.
Seit 1813 ist diese Geschichte allen Leserinnen und Lesern der ersten Schilderung von Seumes abenteuerlichem Leben bekannt. In ihr wird auch erzählt, dass „ein begüterter, braver Mann“, ein ansonsten anonymer Bürger der Stadt Emden die Kaution gezahlt – und das Seume sie ihm ihn später zurückerstattet habe. Mit dem Honorar, das er als Übersetzer eines englischen Buches ins Deutsche verdient habe. 1813, drei Jahre nach Seumes Tod, hatten zwei seiner Leipziger Freunde, der Verleger J.G. Göschen und der Arzt C.A.H. Clodius Seumes Lebensgeschichte veröffentlicht: „Mein Leben“. Ihre Quelle war das Manuskript seiner Autobiographie. Leider endet es mit seiner Flucht aus hessischen Diensten im Herbst 1863, mit den oft zitierten Worten: „Und nun…“ Den Rest haben die Herausgeber selber geschrieben.
Misstrauisch wie Wissenschaftler sind, fahnden Forscher seit mindestens zweihundert Jahren nach Belegen für die Emden betreffenden Angaben in dieser „Auto-“Biographie von Seume. Zwar haben einige Zeitgenossen aufgeschrieben, was ihnen über seine Abenteuer zu Ohren gekommen ist – von ihm selber erzählt, oder gar nur von Dritten. Seither kennen die „Seumologen“ ausreichend viele Versionen des Geschehens um zu wissen, dass ihre Suche nach Wahrheit noch nicht beendet ist. Teilweise ganz neue Erkentnisse gewann der Seume-Forscher Dirk Sangmeister, als er die 1823 gedruckten Aufzeichnung der Erinnerungen von Jacques Tapernon (um 1746 – 1824), einem Freund und Förderer in der gemeinsamen Zeit in Emden.
Glaubwürdig beschreibt Tapernon beispielsweise die Rolle, die Charlotte Courbière und deren Mutter in der Schar der Fürsprecher und Fürsprecherinnen Seumes spielten. Deren Erfolg ist umso höher zu werten, als es sich bei der fraglichen Flucht bereits um Seumes zweiten Versuch gehandelt hatte, dem verhassten Dienst in Emden zu entkommen (die Flucht aus Bremen hat ihm offenbar niemand nachgetragen). Dieser Umstand erklärt die Schwere der angedrohten Strafe. Die Unsicherheit über deren Art und Ausmaß sowie die Dauer der tatsächlich verhängten Arreststrafe hat auch Sangmeisters Fund nicht verringert. Tapernon erweitert sogar das Spektrum der Spekulationen: Er selber habe „im Verein mit einem Freund“ die „Bürgschaft“ geleistet. Und sie habe nur 35 Thaler betragen.
Jacques Tapernon (um 1746 – 1824) gehörte, wie General Courbière, der französisch-reformierten Kirchengemeinde an und kannte sich als Französisch-Lehrer im Bürgertum von Emden aus. Ihm ist Seume irgendwann aufgefallen: „Unter dem Thorweg des Hospitals in Emden“, und zwar ob des „tiefen Zugs von Gram und Mißmuth“ in seinem Gesicht. Er hat sich anschließend um den „verdorbene Student namens Norman“ gekümmert, obwohl dieser sich „nach Soldatenmanier halbbekleidet, mit offener Brust und aufgekrempelten Hemdsärmeln …. nicht von seinen üblichen Cameraden“ unterschied. Tapernon will es gewesen sein, der Seume als Englisch-Lehrer in die bessere Gesellschaft der Stadt einführte – und in die Familie seines obersten Vorgesetzten.
Die Familie verließ Emden 1787, als der General nach Magdeburg versetzt wurde. In den Revolutionskriegen nutzte er manche Gelegenheit, sich hervorzutun. Silke Arends zufolge wurde er gar zum Ritter des schwarzen Adlerordens geschlagen. Zum preußischen Helden avancierte er später als Verteidiger der Festung Graudenz gegen die Truppen Napoleons. Er hielt sie fast ein Jahr lang, bis zum Friedensschluß von Tilsit (Dezember 1807). Die Kapitulation Königs Wilhelm III (1806) hatte er einfach ignoriert. Angeblich mit der Bemerkung, dann sei er eben selber König. König von Graudenz.
Quellen:
Silke Arends: Der Poet und der General. In: Ostfreesland Kalender 2016, SKN-Verlag Norden.
Dirk Sangmeister: Jaques Tapernon, Seume in Emden, aufgezeichnet und mit einer Einleitung herausgegeben von Hermann Röpe (1823). In: Dirk Sangmeister: Seume und einige seiner Zeitgenossen. Ulenspiegel Verlag, Erfurt 2010
Johann Gottfried Seume: Mein Leben – Nebst der Fortsetzung von G. J. Göschen und C. A. H. Clodius (in der Ausgabe von Phillip Reclam jun., Stuttgart 1991)
Falko Weerts: ‚ich ging so für mich in…‘ Kurze Geschichte über den Spaziergang. Weerts-Verlag Kirchweye, 1. Auflage von 2015