Fernwandern, Hinterlassenschaften der Natur und Grenzerfahrungen
Bericht zur diesjährigen Seume-Tagung
In seinem berührenden, langen Abschiedsbrief an Göschen schreibt Seume am 6. Dezember 1801: „Der Himmel gebe mir das Glück Sie alle wohl wieder zu sehen.“ – Dieser Wunsch kann gleichsam als Einladung und Motto für die Zusammenkunft der Seume-Gesellschaft in Grimma gelten, zu der wir traditionell um den Jahrestag seines Aufbruchs zum „Spaziergang nach Syrakus“ einladen. So auch am 6. Dezember, 223 Jahre später, erstmals im gotischen Gewölbekeller der Rathausgalerie.
Im Mittelpunkt des Vortragsprogramms standen Heike John, Bertram Weisshaar und Ana Zirner, drei Geistesverwandte Johann Gottfried Seumes, deren Erfahrungen mit dem Unterwegssein unterschiedlicher fast nicht sein können.
Ana Zirner, Bergsportlerin und Autorin, überquerte die Alpen von Ost nach West in acht Etappen durch fünf Länder mit ihren Sprachen und Kulturen. Beginnend in slowenischen Ljubljana, wo Seume im damaligen Laibach im Januar 1802 Station machte, führte die Route ca. 1.900 km bis nach Grenoble durch gewaltige Bergmassive, deren Wucht und Schönheit überwältigt: 60 Tage „ist das Himmelszelt mein Zuhause“, abhängig „von der Sprache des Wetters“. Es überkommt sie Demut vor der Natur und Ehrfurcht vor der Erdgeschichte. Und ganz wider Erwarten lernt sie unterwegs die Konfrontation mit sich selbst.
In ihrem Buch „Alpensolo“ berichtet Ana Zirner von strapazenreichen Höhen-touren und wie Bergsteigen das Bewusstsein schärft, um der imposanten Felsenlandschaft mit Respekt zu begegnen - überrascht von der Qualität der Langsamkeit. Diese Faszination verstärkt sich durch das Erleben der Tierwelt. Vor allem sind es die Gastfreundschaft und Gespräche mit Gleichgesinnten, deren oft jahrzehntelangen Natur- und Lebenserfahrungen ihr im hohen Gebirge unverzichtbar werden. („‘Solange wir haben, teilen wir.‘ Dieser Satz wird mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.“) Ebendiese Menschen waren zur Stelle, als Ana einen schweren Sturz überlebt. - Die Ursachen solcher Gefahren in den Alpen existieren seit langem überall sichtbar als Folge der Erderwärmung. Angesichts der Klimaveränderungen verschwinden Flora und Fauna, schmelzen Gletscher und werden in wenigen Jahrzehnten unwiederbringlich verschwunden sein.
Ana Zirner macht uns mit ihrem Buch bewusst, wie diese Grenzerfahrungen in der Gebirgswelt wirken und zum Umdenken bringen.
Mit welchen Folgen solche Verheerungen bereits in unserer Region erlebbar sind, zeigte der Fotograf und Landschaftsplaner Bertram Weisshaar in seinem Vortrag „Letzte Grube zu“, dem Manuskript eines geplanten Buchprojekts. Er beschäftigt sich seit den 90er Jahren mit den Hinterlassenschaften von Braunkohlentagebauen und den Folgen gigantischer Eingriffe in die Natur südlich von Leipzig. Wer einmal selbst an solchen Tagebaugruben mit den Ausmaßen Dutzender Fußballfelder gestanden hat, kann diese Bilder nicht vergessen.
Bertram Weisshaar bewegt sich künstlerisch auf schmalem Grat. Er vermittelt mit hohem ästhetischen Anspruch die „Naturnähe und Erhabenheit“ von riesigen verlassenen Gruben und Abraumhalden, konfrontiert aber gleichzeitig mit dem Erschrecken über diesen großmaßstäblich vernarbten Naturraum. Diese topologischen Veränderungen schaden dem Ökosystem dauerhaft und sind nur mit hohem finanziellen Aufwand teilweise zu beheben. Auch die von ihm ins Bild gesetzten neuen Freizeitgebiete und viel genutzten „Urlaubslandschaften“ verursachen weitere Schäden, wie am Knappensee in der Lausitz zu sehen.
Heike John nahm uns mit auf den Internationalen Bergwanderweg der Freundschaft zwischen Budapest und Eisenach (BE); fast 2.700 km lang ist es die einzige Fernwanderroute zwischen Ländern des einstigen Ostblocks. Sie ging in entgegengesetzte Richtung, wollte am Ende, wie Seume, wieder zu Hause ankommen. Wie er teilt sie Details zur Planung und Vorbereitung mit und beide erlebten unterwegs - über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg nicht zu vergleichende - soziale, politische und historische Realitäten. Heike John immer wieder die Relikte beider Weltkriege, Wachtürme, alte wie neuere Grenzsteine u.v.m. Beeindruckt hat sie, wie eine geschichtsbewusste Community die Erinnerung an die Vergangenheit dieses Weges pflegt, mit Stempelheften, Wiedersehenstreffen bis zu „BE“-Aufklebern. Hier geht nichts ohne Emotionen! Das trifft im Übrigen selbstredend auf das von ihr erwähnte und oft beschriebene „schwarze Loch“ zu, das es nach dem Ende eines wochen- oder monatelangen Unterwegssein zu vermeiden gilt.
Zum Abschluss unserer Tagung hätte Seume selbst zu Wort kommen können mit Anfangspassagen aus „Mein Sommer“ von 1805. Dort ist alles Wesentliche zur Theorie des Gehens nachzulesen. In seinen Apokryphen steht der wunderbare Satz: „Wer aus sich herauslebt, tut immer besser, als wer in sich hineinlebt.“ Und im ersten Brief nach Rückkehr vom neunmonatigen „Spaziergang“ schreibt er an Gleim: „Aber gehe es wie es will; ich frage mein Herz und meine Überzeugung und bin dann ruhig.“
Danke an GK, G-UC und wf für die schriftlich übermittelten Tagungseindrücke.